Otto Haesler: der Provinz-Radikale

BauNetzWoche, 12. November 2010
Von  
Luise Rellensmann

New York 1932. Das MoMA besteht seit drei Jahren. Seit kurzem hat das erste Museum für zeitgenössische Kunst der USA auch eine Abteilung für Architektur. Leiter des für Baukunst verantwortlichen Bereichs ist der junge Philip Johnson. Der spätere Architekt, der 1958 mit Mies van der Rohe das Seagram Building bauen wird, würdigt am Rande der Ausstellung „The International Style: Architecture since 1922“ den nach seinen Worten „wichtigsten Wohnungsbauarchitekten der Welt“: Otto Haesler.

Wer war dieser Mann, der bei Experten zumindest als der bedeutendste Siedlungsarchitekt Deutschlands gilt? Der bis heute der breiten Öffentlichkeit unbekannt geblieben ist, wohl auch, weil seine fast künstlerische Radikalisierung des Massenwohnungsbaus keine Ehrentitel einbrachte. Dabei war Haesler in der großen Wohnungsnot der späten 1920er Jahren ein wahrer Heilsbringer für Menschen mit kleinem Geldbeutel. Mit viel Ehrgeiz entwickelte er Wohnungen für ein Leben am Existenzminimum. Dabei stand immer das individuelle Wohnglück im Mittelpunkt seiner Planungen. Eine Eigenart seiner Bauten war die Nord-Süd Ausrichtung der Wohnzeilen, die den Räumen viel Sonne garantierte. Schlafzimmer hatten Morgensonne, in den Wohn- und Arbeitsräumen konnten Bewohner die Nachmittags- und Abendsonne genießen, in den Hausgärten sich selbst versorgen und erholen.
„Haeslers Bauten zeigen, dass das moderne Bauen nicht nur eine Angelegenheit des Bauhauses und der dortigen Architekten war, sondern dass man sich auch in der Provinz Gedanken über den Wohnungsbau machte“, sagt Berthold Burkhardt, Professor und Leiter des Instituts für Tragwerksplanung an der Technischen Universität Braunschweig. Mit Provinz meint Burkhardt hier die niedersächsische Kleinstadt Celle, wo Haesler von 1906 bis 1931 wirkte. Celle ist der Inbegriff pittoresker Fachwerkidylle, und kaum jemand weiß in dem Städtchen, dass ein Pionier des Neuen Bauens hier Meilensteine seines Lebenswerks hinterlassen hat. Kaum woanders in Deutschland lässt sich die Architekturgeschichte der Weimarer Republnachverfolgen wie in der alten Residenzstadt.

Experten sind sich sicher: Haesler müsste eigentlich in einem Atemzug mit Ludwig Mies van der Rohe und Walter Gropius als wichtiger Vertreter des Neuen Bauens genannt werden. Doch der Mann, der die Zeilenbauweise mitentwickelte und perfektionierte, hielt sich stets im Hintergrund. „Anders als seine bekannteren Kollegen ist er nie der zentrale Ideengeber gewesen“, begründet dies die Kunsthistorikerin Simone Oelker. Die gebürtige Cellerin hat zu Haesler promoviert. „Vielmehr ist er auf die Züge aufgesprungen, die schon in Bewegung waren“, sagt sie.

1880 in München geboren, verbrachte Haesler seine Jugend in Passau. Nach einer Maurerlehre und einer Tätigkeit als Bauzeichner zog es ihn 1903 nach Frankfurt, wo er für das Büro von Ludwig Bernoully Geschäftshäuser baute. Geprägt von der „Karlsruher-Architektenschule“, die die Abkehr vom dogmatischen Historismus propagierte, baute er ab 1906 vor allem bürgerliche Wohnhäuser. Diese gestaltete er mit unterschiedlichen Stilelementen: von Barock über Klassizismus bis hin zur heimatlichen Fachwerkarchitektur. Erst nach dem Ersten Weltkrieg fand er zu seiner Lebensaufgabe – eine Lösung für die Wohnungsnot der Arbeiter zu finden.

Für Burkhardt ist die Architektur des 1962 verstorbenen Architekten konsequenter und radikaler als das Werk vieler Bauhäusler. Diese Haltung spiegelt sich sogar in seinem Lebenslauf wider, glaubt der Experte. Anders als seine Kollegen, wie etwa Mies van der Rohe, die sich bei den Nazis anbiederten und erst nach Ablehnung emigrierten, habe Haesler sich nie beim Regime beliebt machen wollen. „Er blieb von Anfang an seinen Prinzipien treu – und ging ins innere Exil“ so Burkhardt. In Eutin baute Haesler zunächst regionaltypische Häuser aus rotem Backstein. Nach dem Krieg widmete er sich wieder dem sozialen Wohnungsbau, als er in Rathenow den Wiederaufbau vorantrieb. Burkhardt, Mitbegründer der Otto Haesler Initiative, hält die baulichen Hinterlassenschaften des bescheidenen Baumeisters für mindestens so bedeutend wie die zum Weltkulturerbe gekürten Siedlungen der Berliner Moderne.

Nationale Bekanntheit erlangte Haesler mit der Siedlung „Rothenberg“ in Kassel und der „Dammerstock“-Siedlung in Karlsruhe, konsequenten Umsetzungen der Zeilenbauweise an der Seite von Walter Gropius. Dieser hatte ihn damals als den Nachfolger von Bauhaus-Direktor Hannes Meyer sehen wollen. Doch der Celler Baumeister lehnte aus Zeitgründen ab. Auch die Nachfolge von Ernst May als Siedlungsdezernent in Frankfurt am Main wollte er nicht annehmen. Anfang November 2010 findet in Haeslers 1930/31 erbautem Direktorenwohnhaus in Celle eine Tagung zum Thema „Denkmalpflege und energetische Sanierung bei Bauten der Moderne“ statt. In seinem einzigen Einzelwohnhaus, das der Architekt in den späten 20er Jahren plante, beraten Architekten und Ingenieure, Denkmalpfleger und Kunsthistoriker über Perspektiven für einen nachhaltigen Umgang mit seinem Erbe. Durch das Glasfensterband in den ehemaligen Wohnräumen im Erdgeschoss blicken die Seminarteilnehmer in den bunten Blätterwald des umliegenden französischen Gartens. In dem kubistischen Flachbau lauschen sie Vorträgen von Referenten aus der Praxis. Denkmalpflegearchitekt Helge Pitz stellt seine bauhistorischen Untersuchungen der Haesler-Siedlung Rothenberg in Kassel vor. Franz Jaschke von Winfried Brenne Architekten widmet sich den zentralen Sanierungsfragen der Berliner Bruno-Taut-Siedlungen, und Bernd Reimer spricht über gestalterische Problemstellungen bei der Sanierung des Studentendorfs Schlachtensee von Fehling, Gogel und Pfankuch. Die Tagung zeigt, dass in den letzten 20 Jahren allerhand Erfahrung bei der Sanierung der Moderne gesammelt worden ist, in Celle gilt es, diese nun anzuwenden. Simone Oelker hofft, der Stadt und ihren Bewohnern mit der Veranstaltung neuen Input zu geben, sie hält eine detaillierte Bestandsaufnahme der Bauten für nötig – sowie eine Sanierung in Absprache mit den Nutzern. Vor allem sei es wichtig, das Bewusstsein für den Baustil bei den Eigentümern zu stärken.

Um den aktuellen Stand der Celler Haesler-Bauten zu begreifen, machen die Tagungsteilnehmer eine Bustour. Die Reise führt die Gruppe raus aus dem Fachwerk-Kern der Kleinstadt, hin zu den modernen Bauten ihrer Vorstadt. Erste Station ist die Altstädter Schule mit dem angrenzenden Rektorenwohnhaus. „Leider ist der Bau heute ein Flickwerk“, sagt Simone Oelker. In den 70er Jahren baute man Kunststofffenster ein und die Turnhalle um. Heute ist der Eingangsbereich rot akzentuiert, während der Rest des Gebäudes weiß gehalten ist. Als nächstes hält der Bus in einer kleinen Straße, entlang derer sich zu beiden Seiten bunte, ineinandergeschobene Kuben reihen. Kräftiges Blau, Rot und Weiß strahlt dem Besucher entgegen. Dahinter verbergen sich Wohnungen von 80 bis 100 Quadratmetern Größe, einst für die gehobene Mittelschicht bestimmt. „Die 1924 von Haesler erbaute Wohnsiedlung ‚Italienischer Garten‘ war die erste farbig gestaltete Siedlung der Architekturgeschichte“, erklärt ein kundiger Denkmalpfleger durchs Busmikrofon. „2006 wurde die auch ‚Klein Marokko‘ genannte Siedlung komplett saniert. Mit einer Wärmedämmung der Außenfassade konnten die Energiekosten um ganze 70 Prozent gesenkt werden.“ Die Instandsetzung ist ein glücklicher Sonderfall, wie sich wenig später herausstellt. Denn die beiden nächsten Stopps hellen an diesem trüben Herbsttag kaum die Stimmung auf.
Der für Haesler-Expertin Oelker „gelungenste Siedlungsbau“ des Celler Architekten, der 1927 entstandene „Georgsgarten“ mit seinen charakteristischen Nord-Süd-Zeilen, ist heruntergekommen und verlassen. Früher gehörte hier zu jeder Wohnung ein Nutzgarten. Mit dem angegliederten Kindergarten sei das Ganze „ein Mikrokosmos vor den Toren der Stadt“ gewesen. Eine Sanierung ist dringend fällig, aber „nur hier und da wird mal was geflickt“, so Oelker. Kürzlich habe man originalgetreue Lampen angebracht. Doch damit sei es natürlich längst nicht getan.

„Haesler war ein Hardliner, das sieht man vor allem an der Siedlung ‚Blumlängerfeld‘. Da wäre jemand wie Bruno Taut nicht mitgegangen“, sagt Oelker. Die Sieldung Blumlängerfeld, 1930/31 gebaut, ist eine aus zwei 220 Meter langen, zweigeschossigen Wohnzeilen bestehende Wohnanlage, die in der Haesler-typischen Ausrichtung in einem Abstand von 70 Metern parallel zueinander verläuft. In den Wohnungen war gerade einmal 43 Quadratmeter Platz für vier Personen vorgesehen. Ein Zustand, die dem Ensemble zur Jahrtausendwende zum Verhängnis wurde. Man hätte die Wohnungen umbauen und jeweils zwei zu einer Maisonettenwohnung zusammenlegen müssen, um die Anlage zu erhalten, sagt Oelker. Doch der Eigentümer wollte – bei einer Verdopplung der Wohnfläche – die Anzahl der Wohnungen erhalten. Der Denkmalwert wurde der Siedlung schließlich aberkannt. Einzig erhalten ist heute der ergänzende Kopfbau. Der sogenannte „Lungenflügel“, ein Ensemble von sieben Reihenhäusern mit Liegeterassen für Lungenkranke. Als Verfechter des sozialen Wohnungsbau stellte Haesler eben immer den Mensch in den Mittelpunkt. Er schaffte bezahlbare Wohnungen mit verbesserten Raumqualitäten. Möglich war dies u.a. aufgrund des niedrigen Stahlpreises und seiner Stahlskelettbauweise, dazu kamen typisierte Grundrisse.

Letzte Station ist die Wohnhaussiedlung Waack. Eine Anwohnerin will wissen, was denn los sei, warum so viele Menschen sich hier umschauten. „Während in Berlin das Wohnen in Tauts Architekturklassikern längst zum Trend geworden ist, ist vielen Bewohnern der Haesler-Ensembles in Celle nicht klar, dass sie in einem Klassiker der Moderne wohnen“, beklagt Hartmut Kynast, der als Vorstand der Südheide AG Eigentümer der Wohnhausgruppe Waack ist. Die Siedlung aus dem Jahr 1928 stellt Haeslers Versuch dar, das Bauprogramm eines Einfamilienhauses in einer doppelgeschossigen Etagenwohnung zusammenzufassen. Damals eine zeitgemäße und kostengünstige Alternative zum Einzelhaus, wurden die Maisonetten später in den 70er Jahren zu Etagenwohnungen umgebaut. So dass die Wohnungen heute recht klein sind und die Fassadengestaltung mit den Balkonen im ersten und dritten Stock nicht mehr aufgeht.

Kynast, der selber die klaren Linien und Strukturen des Neuen Bauens schätzt, würde die Wohnungen allzu gern in ihren ursprünglichen Zustand zurückführen. „Als Genossenschaft ist es Teil unserer sozialen Verpflichtung, Baudenkmäler zu erhalten. Aber wir können deshalb keine Mieter rausschmeißen.“ Dennoch prophezeit er, dass eine Zeit kommen wird, in der auch die Celler das Wohnen der Moderne entdecken und denkmalgerecht sanierte Wohnungen zu einer Marktnische werden. Die Grundrisse seien jedenfalls gut geschnitten und beliebt, sagt Kynast – was wohl daran liege, dass der Architekt zu seiner Zeit immer das Wohl der Bewohner in den Mittelpunkt seiner Planungen stellte. Insgesamt hält er die Gestaltung für topaktuell.

Wenn dem tatsächlich so ist, dann ist das eine gute Voraussetzung für eine positive Entwicklung in Celle. Trotz Fehlern in der Vergangenheit stünden die Aussichten dann gut für das Werk eines vergessenen aber bedeutenden Baumeisters. Anfang Oktober nahm das Kuratorium der neugegründeten Haesler-Stiftung die Arbeit auf. Für Kuratoriumsmitglied Burkhardt heißt es nun „die positive Einstellung der Stadt Celle zu Haesler zu stärken, ohne die Kritik von gestern zu schmälern. Im Moment haben alle einen guten Willen, den es in der nächsten Zukunft zu beweisen gilt.” Für die Zukunft steht eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Eigentümern der Haesler-Bauten und den Nutzern an. Auch die Kommunikation gegenüber den Stadtbewohnern soll vorangetrieben werden. Haesler soll bekannter werden. Und zeigen, dass auch in der deutschen Provinz hervorragende Beiträge zur modernen Architektur existieren. Vielleicht redet dann ja auch im MoMA mal wieder von Otto Haesler.